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Nicht ich finde, was ich suche, sondern was ich suche, findet mich

needle-in-a-haystack-1752846_1920.jpgQuelle: pixabay

 

Von den ganz besonderen Momenten im Leben möchte ich heute schreiben, und von ihrer Magie, die das Alltägliche, in dem sie sich ereignen, nicht gering machen, sondern erheben und mit einem Aufstrahlen durchdringen. Von vielen Beispielen, die ich aus eigenem Erleben kenne, greife ich eines heraus, um die besondere Qualität dessen anschaulich zu machen, was ich jüngst erlebte, dies stellt also eine Art Innehalten zugunsten einer eher persönlichen Reflexion dar.

Ich werde es nie vergessen: Mit Anfang 30 hatte ich nicht nur mit Erfolg die akademische Theologie studiert und diese mit den notwendigen Examina beendet, sondern konnte auch – allerdings mit eher gemischten Gefühlen – auf Erfahrungen der ersten Berufsjahre zurück schauen. Dabei begleitete mich das Gefühl, dass mir etwas Wesentliches oder Entscheidendes noch fehlte. Ich hatte mich in den zurück liegenden Jahren auch in bestimmten Horizonten religiös-spiritueller Erfahrungen bewegt und mich in Praktiken geübt, die nicht zum „Standard-Programm“ eines evangelischen Theologen gehören: Meditation und Gregorianik, Astrologie und Traumdeutung, Tiefenpsychologie und Atempädagogik und noch manch anderes mehr. In der Rückschau auf diese Aktivitäten sage ich heute: Die akademische Theologie war mir zu verkopft und für meine Religiosität suchte ich einen ganzheitlichen Ansatz.

Mir dämmerte also, dass ich „meine Theologie“ – also das theologische „Denksystem“ in meinem Kopf – noch einmal würde komplett neu formieren müssen. Heute, in der Rückschau, weiß ich, welche Erkenntnis mich umtrieb und die ich doch nicht zu formulieren wagte, weil sie mir zu groß, zu gewagt und möglicherweise zu „sündig“ erschien: Dass nämlich am Anfang aller Religion (als religiöses Subjekt) nicht die sich offenbarende Gottheit steht, sondern der die Offenbarung wahrnehmende Mensch! Dass „Religion“ dann beginnt, wenn der Mensch als erkennendes Subjekt sagt: „Ich glaube!“ – so, wie das ja auch in der kirchlichen Praxis bei jedem Tauf- und Glaubensbekenntnis formuliert wird: „Ich glaube an Gott …“.

Damals war ich noch nicht so weit, meine Suche in dieser Weise zu reflektieren und zu abstrahieren. Ich suchte – und versuchte mich auszudrücken. Aber ich fand nicht die Begriffe und die Sprache, mit der ich hätte ausdrücken können, was ich ahnte, fühlte und wusste. Ich lebte bereits, was mein Motto werden sollte: „Ich muss lesen, was ich schreibe, um zu wissen, was ich denke.“ Dementsprechend versuchte ich in meinen Predigten sprachlich-verkündigend umzusetzen, was mir gedanklich vorschwebte. Aber immer wieder „fiel ich zurück“ in eine Sprache, die mir zu sehr dem Traditionellen verhaftet blieb. Es war, als ob die Weiche zu dem hin, was ich sagen wollte, in meinem Kopf noch nicht richtig umgelegt war.

Eines Tages entdeckte ich in einer Fachbuchhandlung den soeben erschienenen ersten Band von „Tiefenpsychologie und Exegese“ des römisch-katholischen Theologen und Psychoanalytikers Eugen Drewermann (1). Ich nahm das dicke Buch zur Hand, schlug es wahllos auf und fing an zu lesen – und es war, als würde die Welt um mich herum versinken! Stehend las ich Seite um Seite und mir war klar: Es war exakt das, wonach ich gesucht hatte! Drewermann schrieb genauso, wie ich selber dachte. Und er sprach genau die Sprache, die mir bislang fehlte. Hier also würde ich all die Begriffe finden, die ich in der universitären Theologie nicht gelernt hatte und die ich benötigte, um selber ausdrücken zu können, was ich dachte und wie ich es meinte! Ja, ich hatte gefunden, was ich suchte, und von dem ich zuvor nicht gewusst hatte, dass es das war. Oder besser: Das, was ich suchte, hatte mich gefunden! 

Anschließend wurde Drewermann auf rein literarische Weise zu meinem mit Abstand wichtigsten theologischen Lehrer. Das Besondere dabei war: Ich brauchte das, was ich in der akademischen Theologie gelernt hatte, insbesondere die historisch-kritische Interpretation der Heiligen Schriften (Exegese), weder zu verteufeln noch zu vergessen. Im Gegenteil: Die von Drewermann gelehrte tiefenpsychologisch orientierte Exegese bediente sich selbstverständlich all derer Erkenntnisse – aber anstatt einen historischen Abstand zu den biblischen Quellen aufzureißen, schloss er diesen, indem er die Realität des religiösen Gehalts dieser Quellen in die unbewussten Tiefenschichten der menschlichen Psyche verortete. Es ging ihm also weniger um eine alternative Interpretation von Inhalten, als um eine alternative Vermittlung dieser Inhalte ins Hier und Heute. Seine Lehre ist also wesentlich eine Hermeneutik (Vermittlungslehre), die ich seitdem bis heute mit tiefer Überzeugung ihrer Richtigkeit anwende.

Dieses Beispiel soll also deutlich machen, welche Art von Qualität solchen „magischen Momenten“ inne wohnt, von denen ich gerade vor kurzem erneut einen solchen erlebt habe: Ich war in der Kasseler Innenstadt unterwegs und entdeckte einen Informationsstand der Gemeinwohl-Ökonomie. Allein dieser Begriff reichte aus, mein Interesse zu wecken, vermutete ich doch nicht nur eine Nähe zum Non-Profit-Management, für das ich auch im Ruhestand immer noch einstehe. Sondern intuitiv erfasste ich, dass der Begriff des Gemeinwohls ein Orientierungsmerkmal sein könnte für eine positive Beschreibung dessen, was mir vorschwebt, wenn ich das gegenwärtige, ungehemmt wirksame, global-kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen kritisiere. Denn Kritik an herrschenden Zuständen oder am Systemversagen ist schnell formuliert und kann sich häufig des Beifalls gewiss sein. Doch wer „Umkehr predigt“, sollte auch sicher sein können, dabei in die richtige Richtung zu weisen. Dies jedenfalls erhebe ich als Anspruch an mich selbst – wohl wissend, dass ich mich als ökonomisch, soziologisch und politologisch „interessierter Laie“ damit schwer tue auszuformulieren, was mir in Gedanken als das Neue vorschwebt.

Ich trat an den Informationsstand heran und es erging mir wie damals mit jenem Buch von Eugen Drewermann: Ich erfasste bei allem, was ich nun hörte, sofort: „Das entspricht genau dem, was ich denke!“ Eine neue Wirtschaftsordnung, die weder auf Konkurrenz basiert, noch unter dem Paradigma der Gier steht und auch nicht allein größtmöglichen Profit anstrebt, sondern deren Ziel die größtmögliche Förderung des Gemeinwohls ist, welches durch Vertrauen, Kooperation und Nachhaltigkeit entsteht.

Ich erfuhr, dass die Gemeinwohl-Ökonomie nicht nur ein theoretisches Konzept, sondern eine internationale Bewegung ist, die nach der Banken- und Finanzkrise des Jahres 2008 von dem österreichischen Publizist und politischen Aktivist Christian Felber angestoßen worden ist (2). Dabei soll ein weltweiter gesellschaftlicher Bewusstseinswandel erreicht werden, durch den die Dynamik der Weltwirtschaft, die auf die Bildung gigantischer Monopole an Reichtum und Macht hinaus läuft, um 180 Grad gedreht und auf Ziele wie die Förderung des Wohlergehens aller Bürger*innen ausgerichtet wird. Dieser Prozess soll „von unten nach oben“ verlaufen und somit „ur“-demokratisch angelegt sein: Durch Bildung von Regionalgruppen, die nach dem „Salz-der-Erde“-Prinzip die Gesellschaft durchdringen und in ihren jeweiligen Einflusssphären politisch Verantwortliche und wirtschaftlich Handelnde für die Anwendung der Gemeinwohl-Ökonomie gewinnen. 

So erfuhr ich von den Betreiber*innen des Informations-Standes, dass es ihnen um die Gründung einer solchen Regionalgruppe für Kassel gehe und dass sie dafür um Unterstützung werben. Da war ich schnell entschlossen dabei! Und nun vertreibe ich mir die Wartezeit bis zu einem ersten Initiativ-Treffen damit, mich in die Thematik einzulesen, um möglichst viel darüber zu erfahren und sie gedanklich mit anderen Themen zu verbinden, mit denen ich mich beschäftige, wie z.B. der Pflege-Ethik. Und eines kann ich jetzt schon sagen (weil ich danach bereits gefragt worden bin): Die Gemeinwohl-Ökonomie ist kein kommunistisches Konzept, das auf die Abschaffung bzw. Vergesellschaftung des Privateigentums zielt. Das nicht – aber es geht um sinnvolle Begrenzungen des Privateigentums, dort nämlich, wo eine zu starke Anhäufung zu Lasten der Gemeinschaft und deren Wohlergehens ginge. Wo diese Grenzen liegen – das festzulegen kann nicht Aufgabe eines Diktats „von oben“ sein, sondern wird im Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie in demokratischen Diskursen erarbeitet und „von unten nach oben“ politisch umgesetzt (3). 

Die Gemeinwohl-Ökonomie zielt auch nicht auf die Abschaffung der Marktwirtschaft oder darauf, dass keine Gewinne mehr gemacht werden dürften. Sondern darauf, dass Gewinne nicht um der Gewinne willen gemacht werden. „Der Gewinn ist nur noch ein Mittel zum Zweck. Dem, was heute als ‚Überschießen‘ des Kapitalismus, als ‚Maßlosigkeit‘ und ‚Gier‘ erlebt wird, wird ein Ende gesetzt, die Gewinnverwendung wird gesellschaftlich mitgesteuert“ (4). Es geht also wesentlich um eine ethische, soziale und ökologisch-nachhaltige Marktwirtschaft unter dem Primat der Politik (und nicht um Politik unter dem Primat der Wirtschaft).

Inzwischen haben sich sieben gleichgesinnte und gemeinwohl-interessierte Personen aus Kassel und Umgebung gefunden und gemeinsam auf den Weg gemacht, ein weiteres regionales Energiefeld der Gemeinwohl-Ökonomie zu bilden und deren weltweiten Netzwerk hinzu zu fügen. Wir wollen nun die notwendigen Schritte vollziehen, die der formalen Anerkennung als Regionalgruppe vorausgehen. Und darüber hinaus sind wir hoch motiviert, unseren Beitrag zu leisten, um im Sinne der Gemeinwohl-Ökonomie Einfluss auszuüben. 

Ich empfinde es genauso wie damals: Das, was ich suche, hat mich gefunden!

 

Christoph Kuhnke, Theologe und Non-Profit-Manager
                                            

(1) Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese Band. 1, Olten 1984; ders., Tiefenpsychologie und Exegese Band 2, Olten 1985
(2) www.ecogood.org 
(3) Eine Information über die wichtigsten 20 Punkte der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung findet sich im Internet unter https://www.christian-felber.at/schaetze/gemeinwohl.pdf
(4) Christian Felber, Gemeinwohl-Ökonomie, (Wien 2012), aktualisierte und erweiterte TB-Ausgabe München 2018, S.33